Als ich 65 war.

Es gibt gute Ideen, wie man sein Leben aktivieren kann. Etwa mit einem finnischen Taxifahrer zu reisen, ohne zu wissen, wo man zuhause ist. Oder einen Tag lang alles mit links zu berühren. Oder das Wort finnischer Meerbusen zu hören und nicht an das eine zu denken. Wobei mir letzteres nie gelingt.

Es gibt aber auch gute Ideen, die andere für einen haben. Etwa jemanden schon in den subjektiv knackigen Dreißigern auf Kur zu schicken. Plötzlich ist man der Jüngste in einer Gruppe von 26 Menschen. Und der fitteste, und man redet sich ein, dass das nichts damit zu tun hat, dass der Altersschnitt in der Gruppe 25 Jahre über dem eigenen Lebensalter liegt.

Ich freue mich darauf, weil ich nie so bei mir sein kann, wie wenn ich unter anderen bin. Grundvoraussetzung: Ich habe ein Einzelzimmer. Es ist, wie ich später bemerke, unter 42 Zimmern genau jenes, in denen meine – mittlerweile verstorbene – Mutter 1993 schon hier ihre Kur verbracht hat.

Das erste Abtasten – erstes Abendessen, Diät, komische Kartoffeln. Man wird zugewiesen, denn die 6er-Tische sind klar zugeteilt – Leute mit ähnlichen Krankheitsbildern sollen so zum kommunizieren animiert werden. Das klappt; auch wenn ich mich am Anfang beobachtet fühle, weil ich geradezu auffallend jung bin. Aber auch weil ich mich zum ersten Mal seit 18 Monaten irgendwie gesund fühle – die drei Frauen an meinem Tisch haben zusammen 6 verschiedene Krebserkrankungen hinter sich und zusammen vier neue Organe in sich.

Mitr wird klar, dass zwischen Leistungssport, mit dem ich ja viel zu tun habe, und chronischen Krankheiten viele Parallelen bestehen – nicht nur weil die Betroffenen beider Gruppen 10-15 leistungssteigernde Medikamente so einwerfen, als handle es sich um Fizzers-Zuckerl. Chronisch krank sein macht egoistisch, anders geht es gar nicht. Wer sich nicht auf seinen eigenen Körper konzentriert, wird erst recht erkranken. Man braucht Selbstvertrauen, um seinen eigenen Weg zu gehen und sich seines eigenen Selbsts bewußt zu sein. Man ist mit anderen Leben nie Rhythmussynchron und nur bedingt Rhythmuskompatibel.

Ich starte mit einer gewaltigen Bronchitis, die mich zur 95 Prozentigen Stimmlosigkeit verdammt. Was mir aber nur recht ist. So kann ich in den ersten Tagen meines ersehnten Ich-Zustand erreichen, ohne durch mein eigenes Geschwätz vom Weg abzukommen. Ich besorge mir einen in der früheren Welt etwas altmodisch wirkenden CD-Walkman, setze die Kopfhörer auf, drehe die Handys ab und bin zum ersten Mal seit meinem Zivildienst mit mir selbst ein geschlossener Kreislauf. Das Wetter spiegelt meine Seele wieder – erst etwas düster-naßkalt reißt es nach einigen Tagen auf und binnen Stunden, so möchte man meinen, ist der Sommer da. Ich finde meinen Platz an der Mur, so nah an der slowenischen Grenze, dass man hören kann, dass Einsatzfahrzeuge im Nachbarland anders klingen, nicht aber die Hunde, die auf das Tatü-Tata mit lautstarkem Bellen reagieren. Am ersten Tag der dritten Woche gelingt mir der Null-Zustand, nachdem ich mich seit 2 Jahrzehnten gesehnt hatte: Mein Hirn ist so leergeräumt, dass ich bereit bin ein Buch von Anfang zum Ende zu lesen, unterbrochen nur durch essen und durch sonnen und durch gehen. Ich fühle mich wie einem Simenon-Roman im Frankreich der 50er-Jahre. Ich spüre jeden Menschen, der an meiner Bank vorbeigeht und ich mache mir ein Bild von ihm – aber ich lege das jeweilige geistige Foto nicht im Archiv ab, es kommt in keine Schachtel, die den Kopf-Dachboden blockiert und so groß wäre, dass das Sonnenlicht mehr hereinkommen würde.

Ich bin frei im Gedanken.

In der dritten Woche werde ich auch wieder zum Gruppentier, ich tanze mit Urgroßmüttern und flirte mit Großmüttern und ich mag es, wie die Gruppe mich in Ruhe läßt, wenn ich Ruhe haben will und wie sie mich als Kur-Sonne umgarnt und Spaß an meiner Jugend hat, die ich ja im Leben davor kaum noch spürte.

Ich habe sicher 150, 200, 250 Bücher in meinen Heimaten herumstehen, aber diesmal schaffe ich es 5 von Anfang bis zum Ende zu lesen, ohne Zeitschriften dazwischen, ohne Fernsehen, ohne Trödeln, ohne abschweifende Gedanken. Nicht mal das superhübsche Inline-Skater-Mädchen an der Murpromenade, kann mich aus dem Ich bringen.

Ich kann nur jeden raten, der das kann, auch mal für ein paar Tage sich völlig aus der Welt auszuklicken – ohne Handys, ohne Parallelwelt, ohne Aktionsradius.

Der weiteste Weg ist immer der zu einem selbst, und doch braucht man gerade dafür keinen Proviant.
Herr Mayer aus Oberlitzlbach (Gast) - 24. März, 15:20

Tolle Geschichte. War das auch das mit diesem Fallschirmabsturz? Die vorigen Geschichten waren ja doch immer sehr betrübt, gut dass es nun besser ging.

Jimmy Trade - 24. März, 15:30

Nein, das mit dem Fallschirmabsturz war meine liebe Freundin von TischNr2.…:)
storm (Gast) - 24. März, 16:42

Die spannenste aller Reisen...

Grenzgenial.... die Formulierung, der Bericht zum und über den Start und Verlauf einer ganz speziellen Reise und vor allem der Inhalt!

Eigentlich schon spannend und skuril, dass die aufregendste und wertvollste aller Reisen die zu einem Selbst ist! Es gibt keine Tickets, keine Reservierungen und hoffentlich auch keine Stornierungen. Man braucht kein Geld und bekommt so Wesentliches - sie führt uns immer näher an einen Ort, den wir alle in uns tragen, so oft suchen und uns leider so selten auf den Weg begeben.

Und nacherher weiß man - der Anfang ist die Hälfte vom Ziel - beziehungsweise ist der Weg oft schon DAS Ziel!

Gott weiß - das ist die einzige Reise, die uns alles Erlebte schenkt und nie wieder verlieren lässt - du trägst es - du bist es - du wirst es - DU BIST...

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