Billig-Fluglinie
Sagt man.
Die Bürde einer Familie besteht unter anderem darin, dass man die G'schroppen (zu deutsch "Kleine Kinder") der Schwestern hüten darf. Zwischen den langen Nächten vor dem Computer erschien mir das als eine willkommene Abwechslung, nochdazu bei genau jenem blonden Spross, der bislang als völlig unkompliziert galt.
Ich schob also das schläfrige und längst Flaschen-entwöhnte Kind Richtung Cheesburger und Junior-Tüten-Gratisgeschenk (als Tante darf man das!), um dann draufzukommen, dass vorher dringend automatische Geldbeschaffung von Nöten sei.
Im Zickzack umschiffte ich die unzähligen Touristen-Knie mit dem Kinderwagen in der flirrenden Hitze möglichst rasch, um zum nächsten Bankomat und weiters zur klimatisierten Futterstelle zu gelangen, stelllte das Kind ab, Karte raus, Karte einführen, Code tippen, BiepBiepBiepBiep, Code falsch,Böööööp, Korrektur, Check-Blick zum hoffentlich nicht gestohlenem Kind, Betrag eintippen, Biep,Biep,Biep, Karte raus, runterbeugen, Karte gleich im Rucksack zu meinen Füßen verstauen, ein Schatten im Augenwinkel, Geld aus dem Schacht rausz...VERDAMMT! WO IST DAS GELD?
Eine Gruppe österreichischer Urlauber stand mit verdatterten Gesichtern hinter mir und deutete diffus in eine Richtung. Die Richtung war leer, besser gesagt: Voll mit flanierenden Touristen.
"Da war ein Mann und hat ihr Geld aus dem Automaten-Schacht genommen und er ist dort hin! Der mit dem schwarzen Hemd."
"Okay, danke...aber...ähm" Im Geiste flatterten mir die Handlungsmöglichkeiten herunter, der Mann entfernte sich zusehends. Er schmiegte sich verliebt an seine Partnerin.
Möglichkeit 1.) Kinderwagen schnappen und dem Dieb nachrennen?
Der gesamte Inhalt des Kinderwagens (Windeln, Popsch-Creme, Wasserflasche, 20 Stofftiere, Fotoaparat, Jacke, Hut, Schnuller,...) würde sich bei einer Karambolage mit den Kniekehlen eines Touristen überschlagen und samt Kind über die Strasse verteilen. Dazu käme eine Anzeige wegen Körperverletzung und ein strenges Verhör der Mutter über das verschrammte Kindergesicht.
Möglichkeit 2.) Kind mitsamt Klumpert stehen lassen und den Dieb stellen?
Das adrette Kind würde herrenlos herumstehen und von einer armen unfruchtbaren Frau oder einem pädophilen Knasti klammheimlich verschleppt und zum neuen Wohnungseigentum erklärt werden und jahrelang in einem Keller als Sexspielzeug oder Haushaltshilfe dienen müssen. Als Folge könnte ich mich nur jahrelang selbstgeißeln.
Möglichkeit 3.) Dem Mann ein lautes "AAAAAAArschloch" hinterherschreien und auf das Geld verzichten?
Die gebildeten Kulturtouristen würden sich empört umdrehen und nach dem Urlaub in den Interneturlaubspreisvergleichforen über die unmöglichen Manieren von den Einheimischen aufregen und somit den Grundstein des Tourismusrückganges in Wien legen. Das Kind würde die Sprachnachlässigkeit gegen Mütter und Kindergartentanten anwenden und sagen, das hätte sie von mir - außerdem hungrig bleiben und den ganzen Tag mit jeiernder Stimme nach dem Gratisgeschenk flehen.
Ich hätte somit an diesem sowieso bezahlfreien Babysittig-Tag minus 100 Euro verdient und wäre ebenfalls hungrig und sehr, sehr mürrisch. Tagelang.
Ich entschied mich für Möglichkeit Nummer 3...oder...nein...doch 2, brüllte den verdatterten Umstehenden ein furchteinflössendes "AUFPASSEN!!!" mit einem Fingerzeig auf das Kind hin, und rannte.
"Entschuldigung bitte!" Ich wollte forsch und grimmig wirken, tatsächlich war ich aber furchtbar höflich. Der schwarz-betuchte Mann und seine Freundin drehten sich um.
"Sie haben meine 100 Euro genommen. Dort aus dem Bankomat!"
Er sagte nichts, schaute mich an und streckte mir die geöffnete Hand hin, in der mein grüner Fetzen verschwitzt und zusammengerollt lag.
Dann drehten sich die beiden um, gingen einfach weiter, ruhig und kompakt.
Als ich mich zu dem Kinderwagen zurückdrehte, sah ich ein lächelndes, hungriges Mädchen und einen Kreis Kulturtouristen, die wangenkneifend und und in Kindersprache giggelnd aufpassten.
Die Welt ist nicht schlecht eher kontrastreich, dachte ich.